Alexander Mayer

2001

 

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Vergebliches – der Weg zu Hitlers willigen Vollstreckern

Das Jüdische Museum bietet demjenigen, der es vorurteilsfrei und wohlwollend betritt, viele Anregungen und manche tiefe Eindrücke. Am eindrucksvollsten ist für mich der Themenbereich Vergebliches. Gegenüberliegende Spiegel mit ihrer – theoretisch - unendlichen Gegenspiegelung konfrontieren den Besucher mit dem Resümee von "Mein Weg als Deutscher und Jude" des in Fürth geborenen Schriftstellers Jakob Wassermann.

Nach der unerwarteten schweren Niederlage im Ersten Weltkrieg – bei dem übrigens 12.000 deutsche Juden ihr Leben ließen – suchten vor allem rechtsgerichtete Kreise einen Sündenbock und fanden ihn unter anderem in den Juden. Die deutsche Führungsschicht mußte trotz oder gerade wegen der Auflösung der bisherigen Staatsform dem "gemeinen Volk" eine Erklärung für die schwere Niederlage liefern, die ja die bisherigen Eliten zu verantworten hatten.

Bei den revolutionären Unruhen nach dem Krieg waren vor allem in München Juden im Führungskader überproportional stark vertreten. Um so leichter war es, den sowieso vorhandenen Antisemitismus dazu zu gebrauchen, um von den tatsächlich Verantwortlichen für Krieg und Niederlage abzulenken. Erst nach dem Ersten Weltkrieg gewann der schon immer vorhandene Antisemitismus seine gefährliche Dynamik. Und so formulierte Jakob Wassermann 1921 resigniert und ratlos die im Spiegelsaal des Jüdischen Museums im Auszug wiedergegeben Worte:

"Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.

Es ist vergeblich., die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen worden ist. Es macht sie nicht im mindesten bedenklich, es rührt sie nicht, es entwaffnet sie nicht: Sie schlagen auch die rechte.

Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen...

Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude."

Der Saal verweist damit zwar in erster Linie auf das persönliche Dilemma des Dichters und mancher anderer Juden, die sich sowohl als Deutsche wie auch als Juden fühlten, und keine dieser Identitäten aufgeben wollten. Andere Lebenserinnerungen deutscher Dichter jüdischer Herkunft gehen auf diese Thematik überhaupt nicht ein, wie zum Beispiel "Eine Jugend in Deutschland" von Ernst Toller.

Der Spiegelsaal verweist aber über dieses häufige, aber nicht verallgemeinerbare Dilemma hinaus auf die nach wie vor ungelöste Frage, wie es auf der ganz persönlichen, individuellen Ebene zur Schoa, zum Holocaust kommen konnte.

"Hitlers willige Vollstrecker" von Daniel Jonah Goldhagen löste vor wenigen Jahren eine größere Diskussion aus. Die breite Front der Ablehnung resultierte - so meine Überzeugung - in erster Linie daraus, daß die bisherige Forschung im Gegensatz zu Goldhagen eine naheliegende, zentrale Fragestellung weder beantwortet noch untersucht hatte:

Wie konnten ganz normale Deutsche unzählige Juden, "Zigeuner", Slawen, Behinderte, Kommunisten und andere Unschuldige grausam quälen und umbringen, ohne dazu gezwungen zu sein?

Die vielen vernichtenden Kritiken zu Goldhagens Buch bezogen sich eher auf formale Fehler, drückten sich aber um eine Antwort darauf, warum diese Frage in der notwendig zugespitzten Form bisher weder gestellt noch beantwortet wurde. Goldhagen weist in seiner eindringlichen Darstellung anhand von kaum zu bezweifelnden Quellenmaterial nach, daß weder Offiziere noch Mannschaften direkt an den Morden und Mißhandlungen teilnehmen mußten; dies war auch bekannt – nur sehr wenige machten indes von den entsprechenden Ausweichmöglichkeiten Gebrauch.

Allerdings möchte ich deutlich vermerken, daß auch mich die Antworten von Goldhagen nicht voll überzeugen. Er postuliert einen historisch verwurzelten "eliminatorische Antisemitismus" der Deutschen. Wenngleich ich dies für die Zeit von 1933 bis 1945 gelten lassen möchte, so war und bin ich der Überzeugung, daß der Antisemitismus in seiner Form, die nach Auschwitz führte, erst in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vorbereitet und ab 1915 virulent wurde. Der Dreiklang Leiden, Opfer und Enttäuschung waren ein Keim, der das Verhältnis "Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" (Untertitel von Goldhagens Buch) mitbestimmte.

Der Erste Weltkrieg war unumstritten die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) und ein tiefgreifendes Ereignis für die Mentalität der Deutschen. Das Buch von Goldhagen umfaßt insgesamt 729 Seiten, davon wird dem Ersten Weltkrieg eine halbe Seite gewidmet. Dies ist inakzeptabel und könnte bei allen sonstigen Verdiensten von Goldhagen den Schluß nahelegen, er habe sich mit seinem Forschungsobjekt - dem "gewöhnlichen Deutschen" - nur sehr ungenügend auseinandergesetzt. Goldhagen gibt vor, den "gewöhnlichen Deutschen", seine Mentalität und seine Motive verstehen zu wollen, blendet aber diesen ganz zentralen Punkt in seiner Betrachtung praktisch aus. Mich überrascht nur, daß die vielen akademischen Kritiker Goldhagens meines Wissens nie hierauf hingewiesen haben.

Ähnliches gilt für die NS-"Euthanasie", der Generalprobe zum Holocaust: Auch die systematische Ermordung geistig Behinderter vor der Ermordung Bürger jüdischer Herkunft paßt nicht in die These, diese Taten würde in erster Linie einem tiefsitzenden, zeitlich kaum gebrochenen eliminatorischen (vernichtenden) Antisemitismus entspringen.

Ein frühes Foto des Dichters Jakob Wassermann (1873-1934), datiert auf 1905. Repro: A. Mayer, Original im Jüdischen Museum Franken.

Politischer Antisemitismus im Kaiserreich

Es gab zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland antisemitische Parteien - die von Zeitgenossen auch so bezeichnet wurden - aber ihre Erfolge waren doch sehr bescheiden, wenngleich das reine Mehrheitswahlrecht kein zuverlässiger Gradmesser ist. Die "moderne" – also nicht mehr religiös argumentierende - antisemitische Bewegung gewann in Deutschland Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ihre Konturen, "befördert durch die Eindrücke der Gründerzeit und durch den konservativen Umschwung der Politik seit 1879.". Eine Reihe von Veröffentlichungen seit 1873 (Erstling: Wilhelm Narr: "Der Sieg des Judentums über das Germanentum", Bern 1873) bereiteten die Entwicklung vor und begleiteten sie.

Bei den Reichstagswahlen erreichten die "Antisemiten" (in der damaligen Wahlstatistik tatsächlich so benannt) von 1887 bis 1912 eine Steigerung von 11.663 auf 356.700 Stimmen (3,0%, 13 Mandate). Allerdings gab es auch in Frankreich 1898 eine kleine antisemitische Partei, im Wiener Gemeinderat erlangten und behielten die Antisemiten trotz mehrmaliger Auflösung des Gemeinderats 1895 die Mehrheit und besetzten daraufhin die Posten des Bürgermeisters und Vizebürgermeisters mit ihren Parteigenossen. Besondere Ausprägung fand der Antisemitismus in Rußland, hier - so ein zeitgenössisches Urteil - "trat zu den socialen Ursachen... noch ein religiöser Fanatismus". Nach den Pogromen 1881 in Südrußland und Polen wurden ab 1882 diskriminierende Gesetze gegen Juden erlassen

Vor 1918 oder zumindest vor 1912 deutete wenig darauf hin, daß es nach dem Ersten Weltkrieg zu dieser in ihrer Radikalität singulären Form des Antisemitismus kommen konnte. Die gesellschaftlichen Gradmesser lassen bis dahin und im europäischen Vergleich keine spezifische Ausformung des deutschen Antisemitismus erkennen, jedenfalls keinen direkten Weg zu einer eliminatorischen Ausformung.

Die Spur zu Hitlers willigen Vollstreckern beginnt meiner Überzeugung nach mit dem Entschluß zum Ersten Weltkrieg, der spätestens im Jahr 1912 erfolgte. Die Reichsleitung gab damals vor, den Krieg propagandistisch als Rassenkrieg gegen Slawen und Romanen vorzubereiten, was sich nach 1918 fatal nach innen auswirkte.

Eine typische Interpretation des Ersten Weltkrieges nach 1918: Der deutsche Soldat kämpft wie ein griechischer Sagenheld – Inbegriff der Tugend - gegen ein mehrköpfiges Ungeheuer, das die Vielzahl heimtückischer Feinde versinnbildlichen soll. Es scheinen zwar verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen, aber die Faszes (Rutenbündel) links und recht – Sinnbild für Recht und Einigkeit – deuten schon an, daß der Feind nach dieser Interpretation auch innen stand. Das Relief ist im ersten Stock des Hardenberg-Gymnasiums (Kaiserstraße 92) zu finden. Foto: A. Mayer.

Sonderrolle von Fürth?

Unser Fürth galt bis zum Ersten Weltkrieg als ein Ort der beispielhaften Toleranz gegenüber Juden, wenngleich mitunter der Verdacht geäußert wird, diese Einschätzung sei eine nachträgliche Verklärung. Auch Jakob Wassermann belegt nämlich, daß es mit der Toleranz in Fürth nicht so weit her gewesen sein kann: "Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonderes nahe, da ich herausfühlte, daß sie weniger die Person als die [jüdische] Gemeinschaft trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein giftiger Blick, abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende Verächtlichkeit, das was alltäglich."

Zwar gibt es viele Einzelbeispiele des guten Verhältnisses auf der Ebene der gesellschaftlich bestimmenden Schichten, vereinzelt auch Beispiele für die breite Bevölkerung etwa in Form einer positiven Abstimmungen über den gemischten Religionsunterricht 1869, aber auch hier ist Vorsicht geboten.

Einerseits stammen die positiven Beispiele in Fürth bis auf wenige Ausnahmen aus der Zeit vor dem allgemeinen Wiederaufleben des deutschen Antisemitismus ab etwa 1879. Weiterhin ließ sich auch andernorts, wie zum Beispiel in der Umgebung des Kaisers, eine widersprüchliche Situation ausmachen: Der Kaiser empfing zahlreiche jüdische Bürger und hörte auch auf ihren Rat, genannt seien Albert Ballin (Generaldirektor der Hapag), Emil und Walter Rathenau (Emil R.: Generaldirektor der AEG; Walter R.: Vorstandsmitglied der AEG, Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft), die Bankiers Max Warburg, A. Salomonsohn und Carl Fürstenberg sowie den Industriellen Fritz von Friedländer-Fuld. Meist waren die jüdischen Familien zum Christentum übergetreten, bevor sie durch Nobilitierung und Verleihung von Ordensauszeichnungen in den Kreis der "besseren" Gesellschaft aufgenommen wurden, aber es gab auch Ausnahmen wie der Bankier Gerson v. Bleichröder, der bei seinem jüdischen Glauben blieb und dennoch geadelt wurde.

Dies alles konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die adlige Gesellschaft, Minister, Bürokraten und Offiziere den Juden die Gleichberechtigung versagten und in diesen Kreisen ein latenter Antisemitismus vorherrschte, gerade auch seitens des Kaisers und seiner engsten Umgebung sind antisemitische Äußerungen und Einstellungen überliefert. In breiten mittelständischen und bäuerlichen Schichten, die ihre soziale Stellung durch die fortschreitende Industrialisierung bedroht sahen, machte sich dagegen ein unverhüllter Antisemitismus breit.

Es bleibt meiner Meinung nach eine vorerst unbeantwortete Frage, ob und inwiefern dies in Fürth Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts prinzipiell anders gewesen ist. Ich tendiere bei der Antwort eher zu einem Nein, vor allem wenn man sich die weitere Entwicklung vor Augen hält.

Der Themenbereich "Vergebliches" mit einer Installation für Jakob Wassermanns "Mein Weg als Deutscher und Jude". Foto: A. Mayer

Der Rat des Dichters

1921 schrieb Jakob Wassermann sein oben mehrfach zitiertes Buch "Mein Weg als Deutscher und Jude". Zwei Jahre später, am 18. September 1923, gründete sich eine Ortsgruppe der NSDAP in Fürth, die schon im November 170 Mitglieder aufweisen konnte. Die NSDAP hatte in Fürth immer – verglichen mit Bayern und dem Deutschen Reich – überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse. Auch in Fürth brannte 1938 die Synagoge und niemand protestierte gegen den Abtransport der Mitbürger.

Jakob Wassermann beschreibt in den letzten Absätzen von "Mein Weg als Deutscher und Jude" seine Gespräche über die nach 1918 losbrechende Antisemitismuswelle: "... wenn ich mit meiner Qual, mit meiner Bitterkeit, mit meinem unentwirrbaren Problem, mit Hinweis, Frage, Sorge zu einem von ihnen komme... so faßt er doch nicht die ganze Tragweite des Unglücks und verschlimmert meine Ratlosigkeit nur durch Argumente, die kein Gewicht mehr für mich haben. Er meint mich trösten zu können, wenn er von der Ebbe- und Flutbewegung geistiger Seuchen spricht; er übersieht, daß ich mich darin, gerade darin als Arzt betrachte und die Erfolglosigkeit meiner Bemühung einer Unzulänglichkeit in mir zuschreiben muß. Er meint, daß die Wut der Lärmmacher und Schaumschläger nicht beweislastig sei für die Gemütsverfassung und sittliche Richtung der Nation; er übersieht aber die Zahl der Opfer; er übersieht, daß es müßig ist, wenn ich mich als Gefangener in einem Raum voll Kohlenmonoxydgas befinde, mich damit zu beruhigen, daß morgen das Fenster geöffnet werden. Endlich fehlt ihm... das Verständnis dafür, daß ich in allerletzter Linie mehr für die Deutschen als für die Juden leide... Was soll geschehen? Was soll Deutschland tun?

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand...

Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug".


Alexander Mayer


Meine Literaturempfehlungen zum Einstieg in das Thema:


Wolfgang Benz/Werner Bergmann: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Herder Spektrum.
Imanuel Geiss: Geschichte des Rassismus. Edition Suhrkamp.
Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Siedler Verlag.
Fritz Fischer: Hitler war kein Betriebsunfall. Verlag C.H. Beck.
Ian Kershaw: Hitler 1889 – 1936. Deutsche Verlags Anstalt.
Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. Dtv.