Willie Glaser

2002

 

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Panzer und Storchennest

"Im Jahre 1887 zogen Leiser Glaser und seine Frau Esther aus dem österreichisch-ungarischen Galizien nach Leipzig, wo 1890 mein Vater geboren wurde.

1892 ließ sich die Familie Glaser in Fürth nieder. Dort übte Leiser Glaser seinen Beruf als Schuhmachermeister aus.

Während des I. Weltkriegs diente mein Vater von 1914 bis 1918 in der österreichischen Armee. Nach dem Krieg wurde Galizien ein Teil des Nachfolgestaates Polen und als Konsequenz mußten die Mitglieder der Familie Glaser die polnische Staatsangehörigkeit annehmen.

Mein Vater bemühte sich um die deutsche Staatsbürgerschaft, doch wurde sie ihm verweigert und so besaßen die Glasers polnische Pässe. Ich erhielt meinen Paß im Alter von 13 Jahren.

Die Trennung der Familie

Im Jahre 1938 wurde eine meiner Schwestern mit einem "Kindertransport" nach England geschickt. Nach kurzer Zeit nahm sie eine jüdische Familie in Belfast auf. Diese Familie konnte auch für mich ein Visum erwirken. Ich kam 1939 in Belfast an, eine Woche vor Ausbruch des II. Weltkriegs.

Bereits im Frühjahr 1939 hatte mein Vater nach Frankreich ausreisen können. Er wollte dort alles vorbereiten, damit meine Mutter, meine zwei anderen Schwestern und mein jüngerer Bruder zu ihm nach Paris kommen konnten. Bei Beginn des Weltkriegs war also mein Vater in Paris, die Mutter mit den restlichen Kindern in Fürth und meine Schwester und ich in Belfast.

Ich arbeitete von 1939 bis 1941 in Belfast. Erstaunlicherweise standen meine Schwester und ich in dieser Zeit mit meiner Mutter in Fürth in regulärem Postverkehr. Alle zwei bis drei Wochen erhielten wir einen Brief von Mutter. Es war ganz einfach: Das Paar, das sich um meine Schwester kümmerte, hatte Kinder, die in Dublin lebten. Der Freistaat Irland aber war neutral, weshalb zwischen ihm und Deutschland eine normale Postverbindung bestand.

Die Briefe meiner Mutter und unsere Antworten wurden von und nach Dublin gebracht. Natürlich adressierte meine Mutter ihre Briefe an die Kinder in Dublin. Mutter schrieb vorsichtig über ihr schweres Leben und den kalten Winter. Gegen Ende des Jahres 1941 brach die Korrespondenz mit meiner Mutter ab.

Bei der Ersten Polnischen Panzerdivision

Anfang 1941, im Alter von 20 Jahren, sah ich mich um: Alle jüdischen Jungen im wehrfähigen Alter hatten sich freiwillig zur Armee gemeldet (anders als in England hatte es in Nordirland keine allgemeine Mobilmachung gegeben). Ich beschloß ebenfalls zur Armee zu gehen.

1943 wurde ich zur Ersten Polnischen Panzerdivision versetzt. Ein Stabsunteroffizier des Regiments befragte mich und wies mich an, mich beim Kommandanten der 1. Schwadron zu melden. Nach einem langen und intensiven Interview teilte dieser mir mit, daß ich ab jetzt zur Besatzung von Trupp 2 mit dem Codenamen "Barbara 2" gehörte. Meine Aufgaben waren die des Funkers und Geschützladers.

Frühling und Sommer 1944 brachten sehr schlechte Nachrichten über die Situation der Juden in Polen und den anderen besetzten Ländern.

Ich saß hier auf einem großen Panzer mit einer mächtigen Kanone und fühlte mich trotzdem völlig hilflos.

Die Landung in der Normandie

Am 8. August 1944 kam für mich der Moment der Wahrheit. Die Erste Polnische Panzerdivision als integraler Bestandteil der Ersten Kanadischen Armee landete in der Normandie.

Vom Brückenkopf "Juno" aus bewegten wir uns in Richtung Caen. Das Regiment rückte durch die Ruinen der zerstörten Stadt Caen vor. Caen war eine schöne mittelalterliche Stadt gewesen. Alles, was ich von ihr sah, waren Trümmerberge.

Im Verlauf der Kampfhandlungen wurden viele Gefangene gemacht. Als Panzereinheit konnten wir uns nicht lange mit dem Bewachen von Gefangenen aufhalten. Meistens sagte ich ihnen einfach auf Deutsch, sie sollten weiter hinter die Front marschieren. Irgendwelche Infanterieeinheiten gab es dort immer, die sich um sie kümmerten

Mitte August 1944 war ein großer Teil der deutschen Truppen von Amerikanern, Engländern, Kanadiern und Polen im Kessel von Falaise umzingelt. Einheiten der Waffen-SS, insbesondere die 12. Panzerdivision "Hitlerjugend".

Während eines Tages kamen Gefangene an, die weiter nach hinten gebracht werden sollten. Es waren etwa 40 Mann, mehrheitlich von der SS-Panzerdivision "Hitlerjugend", alle sehr jung, zwischen 18 und 19 Jahren alt. Ich sagte dem höchstrangigen anwesenden Offizier der Waffen-SS, daß ich jeden Gefangenen verhören würde und er auf mein Zeichen jeweils einen Soldaten zu mir schicken sollte.

Meine übliche Routine war es nach den Personalien zu fragen. Ich hatte keine Zeit für ausführliche Fragen. Dafür waren die Geheimdiensteinheiten in der Etappe zuständig.

Als nun wieder ein Soldat zu mir vortrat, fragte ich ihn also nach seinem Namen und seiner Einheit. Er antwortete: "Panzerdivision Hitlerjugend." Ich warf einen Blick in sein Soldbuch und ließ es fast fallen: Sein Geburtsort war Fürth!

Sonst verhörte ich die Kriegsgefangenen in einem kühlen, aber korrekten Tonfall. Jetzt aber fehlten mir die Worte und ich versuchte es mit einer anderen Methode. Im breitesten Fürther Dialekt fragte ich ihn: "Nisten die Störche wieder auf dem Schornstein?" Jeder Fürther kannte das Storchpaar, das sein Nest auf einem stillgelegten Fabrikschornstein hatte. Wenn der Frühling kam, hielt jeder Ausschau nach den Störchen, die aus ihren Winterquartieren in wärmeren Ländern zurückkehrten.

Der SS-Mann schluckte und kniff die Augen zusammen. Diese Frage, die nur jemand stellen konnte, der einmal in Fürth gelebt hatte, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Als ich ihm dann auch noch sagte, daß er gerade von einen Juden vernommen wurde, versetzte ich ihm den endgültigen Knockout.

Ich sprach noch mit einigen anderen SS-Leuten einschließlich des Offiziers, der erbleichte als ich ihm sagte, er spräche gerade mit einem Juden. Ich konnte förmlich sehen, wie die Rädchen in seinem Gehirn in den Schnellgang wechselten.

Später erzählte mir der Geheimdienstoffizier des Regiments, daß dieser Offizier ein Veteran der "Leibstandarte Adolf Hitler", Hitlers persönlicher Eliteeinheit, war, der zu einer Gruppe von kampferfahrenen Offizieren der "Leibstandarte" gehörte, die die Division "Hitlerjugend" verstärken sollten, die erst Mitte Juni 1944 zum Einsatz gekommen war

Für mich war es ein ganz kleiner persönlicher Triumph und eine Genugtuung, die Angehörigen der 12. SS-Panzerdivision "Hitlerjugend" so behandelt zu haben. Im Jahre 1936 war die Familie Glaser in die Schwabacher Straße 22 umgezogen, die nach wie vor eine geschäftige Hauptstraße in Fürth ist. Während der Reichsparteitage in Nürnberg marschierten sehr oft Formationen der SS durch meine Straße. Als kleiner Junge beobachtete ich sie vom Fenster unserer Wohnung im ersten Stock.

Niemals, nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich gedacht, daß eine Zeit kommen würde, in der ich in einen mörderischen Kampf mit der SS verwickelt sein würde.

Izbica

Die Nachrichten, die mich über das Schicksal der Juden in den besetzten Ländern erreichten, waren katastrophal. Auf das unablässige Drängen der jüdischen Widerstandsbewegung in Polen hin schickte die polnische Exilregierung einen Kurier, den Diplomaten Jan Karski, in das Warschauer Ghetto, verkleidet als ukrainischer Wachmann. Er versuchte in das Vernichtungslager Belzec einzudringen, doch der Versuch schlug fehl. Er konnte jedoch einen Eindruck vom Durchgangslager Izbica gewinnen. Die Tragödie dabei ist, daß am 22. März 1942 meine Mutter und drei meiner Geschwister von Fürth nach Izbica deportiert worden waren. Entweder gingen sie dort zugrunde oder wurden weiter nach Belzec in den Tod geschickt.

Im Jahre 1995 traf ich Jan Karski in Montreal, als ihn auf meine Aufforderung hin die Führer der polnischen Gemeinde eingeladen hatten, um zu den Mitgliedern der polnischen und der jüdischen Gemeinde zu sprechen. Er trat vor einer großen Zuhörerschaft auf, es gab nur mehr Stehplätze. Er signierte mein Exemplar seines Buches mit den Worten: "Für Willie Glaser, in Erinnerung an Ihre Mutter und ihre Kinder".

Was hatten sie meinen Eltern angetan?

Im April 1945 betraten wir deutschen Boden. Wieder wurden die Kämpfe verbissen geführt, denn die Deutschen verteidigten jetzt ihren eigenen Boden. Am 4. Mai traf das 10. Berittene Schützen Aufklärungsregiment, das wie üblich die Spitze der Ersten Polnischen Panzerdivision bildete, nahe der Ortschaft Astederfeld auf erbitterten deutschen Widerstand. Dies war die letzte Kampfhandlung, an der ich beteiligt war. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland bedingungslos.

Hier war ich also, Willie Glaser aus Fürth, zurück auf deutschem Boden. Tief in meinem Herzen wußte ich bereits, daß ich meine Familie nie wiedersehen würde. Ich war in Kontakt mit meinem Onkel Benjamin, dem Bruder meines Vaters, der bereits 1935 nach Palästina emigriert war. Später erzählte er mir, daß er sich bereits Anfang 1944 über den Tod meiner Familie im Klaren war. Dennoch versuchte er mir in seinen Briefen Hoffnung für das Schicksal meiner Familie zu geben.

Ich konnte einfach nicht verstehen, daß meine christlichen Spielkameraden aus der Blumenstraße, damals fünf oder sechs Jahre alt, nun zu solchen Verbrechen fähig gewesen waren. Schließlich war ich zu ihnen nachhause gekommen, nachdem wir Cowboys und Indianer gespielt hatten, wo mich ihre Mütter mit Marmeladebroten fütterten. "Franzl" und "Fritzl" waren auch zu uns gekommen, um ein Stück Apfelkuchen von meiner Mutter zu bekommen.

Alle wußten, daß wir Juden waren und es gab niemals Probleme damit. Wenn ich meine Großmutter in der Königstraße besuchte, schlich ich mich für mein Leben gern zur Feuerwache, die sich genau hinter dem Haus meiner Oma befand. Es war sehr aufregend den Feuerwehrleuten beim Waschen ihrer Autos zu helfen. Auch sie wußten, daß ich ein Jude war. Sie halfen mir auf den Fahrersitz. Ich war so stolz und wollte ein Feuerwehrmann werden, wenn ich groß bin. Hatten sich diese Feuerwehrleute ebenfalls an den Verbrechen schuldig gemacht, die man an ihren jüdischen Nachbarn beging?

In Fürth kannte jeder jeden. Meine Großmutter war bekannt als Ester Glaser, die Schuhmacherswitwe. Wenn ich sie zum Markt begleitete, nahmen viele Männer ihre Hüte und Mützen zu einem freundlichen Gruß ab und die Frauen sagten: "Grüß Gott, Frau Glaser!" Waren alle diese Menschen unmittelbar schuld an der Ermordung meiner Familie?

Neue Heimat

Im März 1947 kehrte die Division nach England zurück und wurde eine halbmilitärische Einheit, das Polnische Umsiedlungskorps. Später in diesem Jahr lud die kanadische Regierung etwa 5.000 polnische Veteranen dazu ein, sich in Kanada niederzulassen. Ich bewarb mich um eine Erlaubnis, wurde angenommen und zog nach Montreal.

Wenn ich heute auf meine ungewöhnlichen Erfahrungen während des Krieges in der polnischen Armee als jüdischer Soldat, der in Fürth geboren ist und dort einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte, zurückblicke, dann war es damals nicht schwer für einen alliierten Soldaten, seinem deutschen Gegner gegenüberzutreten. Während des Krieges war er schlicht der Feind und damit konnte man einfach umgehen.

Bald nach Ende der Feindseligkeiten entwickelten sich praktische und später völlig normale Beziehungen mit der deutschen Bevölkerung. Doch ich stand da, verwirrt und wütend, denn die schreckliche Wahrheit des Holocausts lastete schwer auf meinen Schultern. Ständig mußte ich an meine Familie denken, was ich auch heute noch tue. Damals wie heute kann mir niemand die Frage beantworten: WESHALB KAM ES ZUM HOLOCAUST?

Immer neue deutsche Nachkriegsgenerationen werden geboren, die hart daran arbeiten, daß die Vergangenheit nicht ausgelöscht, sondern ihrer gedacht wird. Heute dienen wieder Juden in der Bundeswehr. Das heutige Deutschland ist weit entfernt von der 12. SS-Panzerdivision "Hitlerjugend".


Willie Glaser

Oktober 2002, St. Laurent Quebec, Kanada"

(Übersetzung: Gerhard Jochem)



Originaltext auf Rio-Research (PDF)

Geschichte der Familie Glaser in der Wikipedia