Alexander Mayer
Fürth 2000
|
Krieg der Illusionen – Fürth 1911 - 1914 Stadtchronist Paul Rieß Georg Paul Rieß wurde am 16. Dezember 1864 im Herzen der Stadt Fürth geboren, in der Gustavstraße 10. Rieß stammte aus einer schlichten Drechslerfamilie. Er selbst erlernte das Buchbinderhandwerk. Rieß war nach Eröffnung des Berolzheimeraniums (Volksbibliothek) im Mai 1906 dort sonntags ständiger Gast. Am 3. September 1907 veröffentlichte er im "Fürther Tagblatt" seine erste schriftliche Abhandlung zur Fürther Lokalgeschichte, unterstützt vom damaligen Redakteur Georg Wüstendörfer (Rieß traute sich alleine die sprachliche Ausgestaltung nicht zu). 1908 wagte er zwei, 1909 fünf und 1910 schon vierzehn Artikel. Am 27. Januar 1911 starb der damalige Stadtchronist Paul Käppner. Etwa drei Wochen später kam Magistratsrat Scheidig zur Arbeitsstelle von Rieß, der damals als Zuschneider in der Bilderbücherfabrik Löwensohn (Sommerstraße) beschäftigt war. Er fragte Rieß im Auftrag von Oberbürgermeister Kutzer, ob er die Stadtchronik fortführen wolle, was Rieß hocherfreut annahm. Er nahm die Arbeit sofort auf und holte sie nach bis vor dem Todestage von Käppner. Der ehrenamtliche bestellte Chronist erfüllte seine Aufgaben nach Feierabend mit Akribie (oft bei Kerzenlicht). Erleichtert wurde ihm die Arbeit von der Stadt, als er ab August 1914 in ihren Dienst übernommen wurde, zuletzt im Stadtarchiv. Paul Rieß schrieb bis 1945 die Fürther Stadtchronik: "Mit zähem Fleiß und größter Gewissenhaftigkeit hielt er in seinen Aufzeichnungen und aufgeklebten Zeitungsausschnitten die Ereignisse fest, die von Bedeutung für das Leben der Stadt schienen" (Adolf Schwammberger). Ich kann nur bestätigen, daß im Fürther Stadtarchiv ein wirklich außergewöhnliches Lebenswerk im nur selten unterbrochenen Dornröschenschlaf liegt. "Leider konnte der liebste Wunsch des letzten Fürther Stadtchronisten, seine eigenen Werke gesammelt in Druck zu sehen, nicht mehr erfüllt werden" (Fränkische Tagespost v. 17.1.1963). Ich freue mich, diesen Wunsch nun endlich erfüllen zu können. Paul Rieß hat den gleichsam folgenreichsten wie katastrophalsten Abschnitt der deutschen Geschichte miterlebt und aus der lokalen und persönlichen Sicht überliefert. Die alleinige Darstellung der Ereignisse in Fürth würde jedoch zu kurz greifen. Deswegen habe ich dem ersten Band meiner Edition der Paul Rieß Chronik vieles zur allgemeinen Geschichte jener Zeit vorangestellt. Ein wichtiger Orientierungspunkt war dabei das Standardwerk "Krieg der Illusionen. Deutsche Politik 1911-1914" des am 1. Dezember 1999 verstorbenen Historikers Fritz Fischer – deswegen auch mein fast gleichlautender Titel. Fritz Fischer brachte gegen vielerlei Widerstände die deutsche Weltkriegsforschung auf internationalen Standard.
Die Welt ist noch (fast) in Ordnung: Am 29. Juli 1913 besucht der Prinzregent und spätere König Ludwig Fürth. Von Boykott-Aufrufen der Sozialdemokraten ließ man sich den Spaß nicht verderben. Paul Rieß schrieb: "Beim Rathause hatten weiß gekleidete Damen, die Offiziere der hiesigen Garnision und die Ehrenwache Platz genommen. Gegenüber hatten sich die vereinigten Sänger des Gauverbandes Fürth mit ihren Fahnen aufgestellt... Als die hohen Herrschaften vor dem Rathause angelangt waren, wurden sie von Herrn O.B. Kutzer im Namen der Stadt empfangen und von den dort stehenden, nach vielen tausenden zählenden Personen mit ungeheurem Jubel begrüßt. Vom Turme spielte die Artilleriemusik herab. Es war eine feierliche Stunde, die jedem Beiwohnenden unvergeßlich sein wird. Helle Freude und Patriotismus war auf allen Gesichtern ausgeprägt". Repro: A. Mayer. 1912: Entscheidung zum Krieg Kaiser Wilhelm II., Generalstabschef v. Moltke und Flottenchef Tirpitz stellten am 8. Dezember 1912 den Militärbevollmächtigten der deutschen Staaten das Szenario des Ersten Weltkrieges vor: Österreich solle gegen Serbien vorgehen. Wenn Rußland dann Serbien stütze, wäre der Krieg unvermeidlich. Wenn sich Rußland zu einem Krieg gegen Österreich habe provozieren lassen, sei Deutschland frei, um mit ganzer Kraft gegen Frankreich Krieg führen zu können. Die deutsche Flotte - v.a. U-Boote - müßten sich auf den Krieg gegen England einrichten. Generalstabschef von Moltke betonte wie so oft, ein europäischer Krieg sei unvermeidlich, und je eher er komme, desto besser. Allgemein wurde jedoch die Notwendigkeit gesehen, das Volk auf den Krieg einzustimmen. Flottenchef Tirpitz empfahl ein "Hinausschieben des Kampfes um 1 1/2 Jahre", bis der Kaiser-Wilhelm-Kanal für Großkampfschiffe ausgebaut und der U-Boothafen auf Helgoland fertiggestellt sei. Der Kaiser stimmte dem Aufschub des Krieges auf Mitte 1914 nur ungern zu. Zwei Tage später sprach der Kaiser gegenüber dem Gesandten der Schweiz vom unvermeidlichen "Rassenkrieg... des Slawentums gegen das Germanentum". Der "Rassenkampf" sei unvermeidlich, er werde voraussichtlich in ein bis zwei Jahren ausbrechen. Mit der These des "Rassenkampfes" befand sich der Kaiser in Übereinstimmung mit Generalstabschef v. Moltke, Reichskanzler Bethmann Hollweg und dem Auswärtigen Amt. Julikrise 1914 Es gibt zwar keine Beweise (sie schlummern vielleicht in den Archiven), aber doch ein paar Hinweise darauf, daß die Kriegsvorbereitungen schon im Gange waren, als am 28. Juni 1914 in Sarajewo der österreichische Thronfolger ermordet wurde. Einige maßgebende Personen in der Reichsleitung empfanden diesen Zwischenfall als ein Geschenk des Himmels: Der unsichere Bündnispartner Österreich-Ungarn konnte nun in den angestrebten Krieg reibungslos hineingezogen werden und damit die russische Armee in großen Teilen binden. Kaiser Wilhelm II. notierte am 30. Juni 1914: "... mit den Serben muß aufgeräumt werden, und zwar bald." Die deutsche Diplomatie drängte Österreich zum Losschlagen, wohl wissend, daß das mit Frankreich verbündete Rußland dem niemals tatenlos zusehen konnte. Die Mobilisierung in Rußland – ausgelöst zunächst durch die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und die Beschießung Belgrads – beantwortete man in Berlin mit umgehenden Kriegserklärungen an Rußland (1. August) und Frankreich (3. August), obwohl die deutsche Reichsleitung sehr wohl wußte, daß die träge russische Mobilisierung noch lange kein Angriff bedeuten mußte, wofür der Zar dem deutschen Kaiser im übrigen sein Wort gegeben hatte. Schon vor der Kriegserklärung an Frankreich erging an das neutrale Belgien ein Ultimatum, daß es den Durchmarsch deutscher Truppen durch Belgien nach Frankreich zu genehmigen habe. Belgien lehnte umgehend ab, was Deutschland aber nicht hinderte, am 4. August in Belgien einzumarschieren. Der Angriff begann gegen Frankreich, obwohl Deutschland vorgeblich durch die russische Mobilmachung zum Krieg gezwungen gewesen sei. Österreich Ungarn erklärte Rußland erst am 6. August nach drängenden Mahnungen aus Berlin den Krieg. Wien beendete somit die groteske Situation, daß sich Deutschland sechs Tage früher im Kriege mit Rußland befand als Österreich-Ungarn, dessentwillen es - nach eigener Darstellung gegenüber der Weltöffentlichkeit - den Kampf überhaupt aufnahm. Tatsächlich hatten sich zwischen Österreich-Ungarn und Rußland gewisse Anzeichen zur Entspannung aufgetan und zu einem Verhandlungsansatz verdichtet. Aber die treibende Kraft zum Weltkrieg war Deutschland, und Deutschland hatte mit seiner Kriegserklärung an Rußland am 1. August vollendete Tatsachen geschaffen. Der deutschen Reichsleitung gelang es zwar nicht, die Weltöffentlichkeit zu täuschen, sehr wohl jedoch die eigene Bevölkerung. Im Deutschen Reich war man der festen Überzeugung, der deutsche Angriffskrieg sei reine Notwehr. In Deutschland - aber auch in anderen Ländern - steigerten sich große Teile der Bevölkerung in eine Kriegsbegeisterung hinein, das "Augusterlebnis" ließ scheinbar alle gesellschaftlichen Konflikte vergessen. Julikrise in Fürth Paul Rieß erwähnt die zum Ersten Weltkrieg führende Julikrise erstmalig am 25. Juli 1914, an dem auch der Ehrenabend für die siegreiche SpVgg stattfand (erste deutsche Meisterschaft): "Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Oesterreich und Serbien versetzte die hiesige Bevölkerung in starke Aufregung. Die Depeschentafeln der Zeitungen waren fortgesetzt belagert. Extra-Blätter erscheinen. Man denkt allgemein, daß ein Weltkrieg zum Ausbruch kommt". Am 26. Juli notierte der Chronist: "Auf den Straßen und in den Wirtschaften ging es heute lebhaft zu. Die hiesige Bevölkerung (ebenso im ganzen Deutschen Reich) sieht mit Spannung der Entwicklung des österreichisch-serbischen Konfliktes entgegen. Extraausgaben der Zeitungen erscheinen. Die Sympathie ist auf Seite Oesterreichs. Bis spät in die Nacht hinein wurden patriotische Lieder gesungen..." 30. Juli: "Die Lage ist kritisch. In der Stadt und am Bahnhof war gestern und heute reges militärisches Treiben. Alle Urlauber wurden einbezogen. Am Staatsbahnhof wimmelte es von Soldaten, die in ihre Garnison zurückkehren... In der hiesigen Bevölkerung entstand durch eine Falschmeldung eines Berliner Blattes, daß auch Deutschland mobil macht, große Unruhe und Ängstlichkeit über die nächste Zukunft. Lebensmittel wurden in großen Mengen gekauft. Die Läden der Kolonialwarengeschäfte wurden vom Publikum nahezu erstürmt. Wichtige Lebensmittel wie Salz, Mehl, Früchte waren in den meisten Geschäften vergriffen. Große Kolonialwarenhandlungen schlossen ihre Geschäfte, da sie vollständig ausverkauft waren. In den beiden Mühlen Wolfsgruber und Förster ist Mehl in ungeheuren Quantitäten eingekauft worden." 31. Juli: "Die politische Hochspannung ist groß. Die Kriegswirren haben schon jetzt ihre nachteiligen Folgen auf das hiesige Wirtschaftsleben geworfen. In mehreren große Fabriken wurde die Arbeitszeit gekürzt. Mit der Begründung, daß infolge der Kriegsgefahr keine Aufträge vorhanden sind, wurden einige ganz geschlossen. Die Erregung unter der Einwohnerschaft ist furchtbar... Nachmittags 1/2 3 Uhr wurde bekannt, daß Rußland allgemein mobilisiert und dadurch ist Deutschland gezwungen, sich auch kriegsbereit zu machen. Durch Extrablätter wurde bekanntgegeben, wie schicksalsschwer die Zeit sich gestaltet. Abends 7 Uhr wurde in allen Straßen der Stadt durch Schutzleute ... die Verhängung des Kriegszustandes über Bayern ... verkündet. Die Bekanntmachungen sind von den Menschenmassen mit großen Ernst entgegengenommen worden. Die städt. Collegien bewilligten in einer außerordentlichen Sitzung 300.000 M. zur Lebensmittelversorgung der Stadt..." Der Krieg beginnt 1. August: Zur Sicherung von Bahn-, Telegraphen- und Telephonanlagen wird aus Bürgern von 45 bis 68 Jahren ein Sicherheitsdienst gebildet. - "Abends 7 Uhr wurde die Mobilmachung dahier durch Schutzleute mit Schelle bekanntgegeben. Erster Mobilmachungstag ist der 2. August... Die Kriegserklärung an Russland wurde um 8 Uhr abends an den Depeschentafeln angeschlagen. Die Bevölkerung ist schon gefaßter". 2. August:"Sämtliche Kirchen waren gedrängt voll von Andächtigen, die Geistlichen führten die Worte unseres Kaisers an: Und nun empfehle ich Euch Gott, geht in die Kirchen, kniet nieder vor Gott und betet um Hilfe für unser braves Heer." Ebenfalls am 2. August notierte Paul Rieß: "Die vaterlandstreue Haltung der hiesigen, wie der gesamten deutschen Sozialdemokratie verdient allseits Hochachtung. Parteien gibt es zur Zeit nicht, ganz Deutschland ist ein Volk von Brüdern." Der damals noch unbekannte Berufsrevolutionär Leo Trotzki notierte seinerzeit: "Als die Nummer des ‚Vorwärts‘ mit dem Bericht über die Reichstagssitzung vom 4. August [Annahme der Kriegskredite auch durch die Sozialdemokraten; Anm. A.M.] in die Schweiz [wo sich Trotzki und Lenin aufhielten; Anm. A.M.] kam, war Lenin der festen Überzeugung, es sei eine gefälschte Nummer, die der deutsche Generalstab zum Betrug und zur Einschüchterung der Feinde herausgebracht habe".– Auch die deutschen Sozialdemokraten hatten sich in der verworrenen Julikrise von der Reichsleitung täuschen lassen und glaubten an den gerechten Verteidigungskrieg. Man muß Trotzki jenseits aller Ideologie sicherlich zustimmen, wenn er den Kriegsausbruch als "Zusammenbruch der Internationale in der verantwortlichsten Periode" bezeichnete. 3. August: "Jeden Abend in dieser Woche fanden in den hiesigen Kirchen Abendmahlsfeiern für die zum Kriege Einberufenen und deren Angehörige statt. Weit über 200 Nottrauungen wurden vollzogen und währten dieselben in den Gotteshäusern und auf dem Standesamt oft bis Nachts 1 Uhr." - In einem Flugblatt "An die deutschen Frauen!" wird dazu aufgefordert, den Männern den Abschied in den Krieg nicht zu erschweren ("Als unsere Vorfahren, die Germanen, im Kampfe gegen die Uebermacht der Römer zu ermatten drohten, da waren es die Frauen, die sie durch Rufe anfeuerten...") 4. August "Zum Schutze gegen französische Flieger, deren in der Umgegend mehrere gesichtet wurden, sind auf dem Rathausturm, Vestnerturm und dem Türmchen der neuen Realschule Maschinengewehre mit 6 Mann Besatzung postiert worden." - Eine der frei erfundenen vorgeblichen Gründe für die Kriegserklärung an Frankreich war u.a. die Behauptung der Bombardierung Nürnbergs durch französische Flugzeuge, was technisch damals kaum möglich war. Die Schlacht Der Erste Weltkrieg führte zu einem taktischen Desaster auf allen Seiten. Man hatte in Deutschland die Vorstellung eines "frisch, fröhlichen Krieges" eines kurzen Feldzuges, in dem es auf Mannesmut und Heldentum ankomme. Die Realität des ersten industriellen Krieges war eine andere. Dennoch: In den ersten Wochen stürmten die deutschen Truppen nahezu unaufhaltsam vorwärts, die Verluste des Vormarsches waren aber selbst nach den Vorstellungen der damaligen Zeit katastrophal. Leutnant Ernst Röhm vom Königl. Bayer. 10. Infanterieregiment berichtete von einem Angriff in Lothringen im August 1914: "Unverdrossen geht´s vorwärts: Sprung auf, marsch, marsch! Es muß doch endlich gelingen, den Feind wenigstens zu sehen! Aber so sehr ich immer wieder meine Blicke durch das Fernglas in die feindlichen Hecken bohre, es ist nichts zu erkennen und nichts zu sehen. Aus undurchdringlicher Deckung kommen die feindlichen Geschosse. Ein überwältigendes Infanterie-, Maschinengewehr- und Artilleriefeuer hält uns nieder. Schwächer und schwächer wird das eigene Infanteriefeuer. Als es in der weiten, langgestreckten Schützenlinie ganz ruhig wird und auch das feindliche Feuer nachläßt, springe ich in die Höhe und rufe den Kameraden zu, aufzustehen. Ich will sehen, wie viele noch kampffähig sind. Wehmütig sagt mir der Hornist, der wie ein Schatten an meiner Seite geblieben ist: ‚Herr Leutnant, es ist niemand mehr da!‘ Und wirklich steht auf der ganzen Frontlinie niemand mehr auf. Nur drei Männer sind noch heil geblieben, alles andere ist tot oder verwundet". In die Heimat drangen solche Beschreibungen allerdings nicht. Fürth entwickelte sich zur Lazarettstadt: Am 27. August 1914 trafen die ersten Verwundeten in Fürth ein, 277 Soldaten vom Schlachtfeld bei Luneville: "Tiefer Ernst lag auf den Gesichtern der Verwundeten und der gesamten hiesigen Einwohnerschaft, als die Wagen durch die Straßen der Stadt zu den Lazaretten in die Turnhalle und den Schulhäusern Rosen- und Pfisterstraße fuhren. Mit Tücherschwenken und Hochrufen wurden die mutigen Vaterlandsverteidiger begrüßt, deren Monturen viele Blutflecken aufwiesen und vielfach durchlöchert waren. Die Hochrufe kamen jedoch aus beklemmter Brust." In den Fürther Lazaretten standen 700 Betten zur Verfügung, die am 29. August belegt waren. Bis Oktober konnten in Fürth 1.720 Betten bereit gestellt werden. Dies konnte aber nach den Siegesmeldungen im August und Anfang September – im Osten auch darüber hinaus – die Kriegsbegeisterung großer Kreise der Bevölkerung nicht dämpfen. 2. September 1914: - "Der Sedanstag fand in hiesiger Stadt einen ungeahnten würdigen Abschluß. Als abends gegen 10 Uhr die Kunde sich verbreitete von Sieg, Sieg und wieder Sieg in Ost und West, da entfachte (sich) in Fürth eine noch nie dagewesene patriotische Begeisterung ... wie sie Fürth, das sonst so ernst und still ist, wohl noch selten, wenn überhaupt jemals, gesehen hat... Als gegen 10 1/4 Uhr die Rathausglocken zu läuten begannen, wuchs und wuchs die Masse zu Tausenden an. Auf dem Rathaus erschienen die Fahnen und viele Privathäuser brachten schon diese Zeichen der Freude heraus." Mehrfach bewegte sich die Menschenmenge zum Haus des Ersten Bürgermeisters (Feuerwehr), der patriotische Rede hielt und mit Ovationen bedacht wurde. Auch vor den Lazaretten hätten sich "unvergeßliche Szenen" abgespielt. 9. September 1914: "Der Fall der Festung Antwerpen wurde nachts 1/2 11 Uhr dahier bekannt. Man rief es sich auf der Straße zu, man sagte es zu den Fenstern hinauf und weckte die schon Schlafenden. Ueberall wurde diese frohe Kunde mit großer Begeisterung aufgenommen ... Die Ersatzregimenter Fürth und Nürnberg zogen nachts 1/2 11 Uhr - 12 Uhr von einer nächtlichen Felddienstübung bei Vach zurückkehrend durch unsere Stadt. Die Soldaten waren ebenfalls durch den Fall von Antwerpen hocherfreut, sangen frohe Lieder und ließen laute Hoch u. Hurra-Rufe ertönen". Der Angriff scheitert Anfang September scheiterte der deutsche Angriff in Frankreich und damit die gesamte strategische Planung, die Offensive wurde in der Marne-Schlacht gestoppt, Generalstabschef von Moltke nach seinem darauf folgenden Nervenzusammenbruch entlassen. Da die Planungen in der Öffentlichkeit jedoch nicht bekannt war, konnte man die Niederlage als einen strategischen Rückzug kaschieren. Der Schwerpunkt der Kämpfe verlegte sich immer weiter in den Norden bis nach Flandern. Bei Ypern entwickelten sich erbitterte Gefechte (20. Oktober bis 18. November 1914). In aller Eile aufgestellte deutsche Reservekorps erlitten verheerende Verluste. Ungenügend ausgebildete und von Reserveoffizieren ohne Fronterfahrung geführte junge Soldaten gingen hier zu Zehntausenden in den Tod, ohne irgendein nennenswertes Ziel zu erreichen. Unter den 260 Verletzten aus Ypern, die am 21. November 1914 in Fürther Lazarette eingeliefert wurden, befand sich ein 15jähriger, der am 12. Dezember 1914 starb. Dennoch entstand aus einem Kommuniqué der OHL (Obersten Heeresleitung) der Langemarck-Mythos: "Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Linien vor und nahmen sie." Die erstaunliche Leerstelle des Textes, Tod, wurde zum ersten Jahrestag 1915 aufgefüllt, so ein Zeitungskommentar (Deutsche Tageszeitung) vom 11. November 1915: "Der Tag von Langemarck wird in alle Zeiten ein Ehrentag der deutschen Jugend bleiben... Wohl fielen an ihm ganze Garben von der Blüte unserer Jugend...; aber den Schmerz um die tapferen Toten überstrahlt doch der Stolz darauf, wie sie zu kämpfen und zu sterben verstanden". – Das Entstehen des Langemarck-Mythos war das erste bedeutende Beispiel verschiedener erfolgreicher Versuche in diesem Krieg, militärische Niederlagen in moralische Siege umzudeuten. Da mit den "jungen Regimentern" auch zahlreiche Studenten in den Tod gingen, gab und gibt es in vielen Universitätsstädten einen "Langemarck-Platz", in unserer Nachbarstadt Erlangen heißt der Platz vor der zentralen Mensa heute noch so. Dabei war Flandern in jenen Tagen - die Ortschaft Langemarck wurde wohl wegen des deutschen Klanges eher künstlich in den Vordergrund geschoben - für die vielen kriegsbegeisterten Studenten ein Ort des Grauens, der Zerstörung und des Todes, für die meisten auch ein Ort des Übergangs vom frühen Enthusiasmus zu Enttäuschung und Verzweiflung, so ein Brief eines Studenten vom 28. Oktober 1914: "Mit welcher Freude, welcher Lust bin ich hinausgezogen in den Kampf, der mir als die höchste Gelegenheit erschien, Lebensdrang und Lebenslust sich austoben zu lassen. Mit welcher Enttäuschung sitze ich hier, das Grauen im Herzen".
"Augusterlebnis": Die in Fürth stationierten Truppen verließen am 7. und 8. August 1914 "unter nicht enden wollenden Hurra- und Abschiedsrufen" den Standort. Die Fußgängerüberführung im Bild existiert nicht mehr, sie stürzte 1920 ein. Repro: A. Mayer. Im Westen nichts Neues Alle Durchbruchsversuche beider Seiten schlugen 1914 fehl, eine über 700 Kilometer lange Front von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze erstarrte im Stellungskrieg, an den Frontabschnitten lagen die vordersten Gräben oft kaum 50 Meter von den feindlichen Stellungen entfernt: "Granattrichter von 3 m Tiefe und 10-12 m Durchmesser liegen vor und hinter den Geschützständen, – es ist eine richtige Wildnis. Und so wie in unserer Feuerstellung, so sieht es in dem ganzen, großen, herrlichen Eichenwald aus. Seit 10 Tagen haben wir zum ersten Mal dauernd Sonnenschein, da läßt sich alles noch ertragen, aber grausig waren die ersten Wochen mit ihrem unaufhörlichen Regen, der alles ringsum in Sumpf verwandelte. Man konnte keine 10 Schritt weit gehen, ohne daß man bis an die Knie versank... So tobten wir durch die Gegend, ewig im schwersten Feuer, ohne jede Deckung. Alle Augenblicke warf man sich hin, wo man stand und ging, um nicht getroffen zu werden, von oben bis unten mit dicker feuchter Lehmkruste bedeckt, suchten wir abends ein Stündchen Schlaf in den Unterständen, in denen das Wasser stand. Vor Ungeziefer und Nässe und Kälte konnten wir nicht schlafen, stürzten ans Geschütz und lösten die todmüden Kameraden ab, nur daß wir warm wurden... Und dann kamen die Tage, an denen uns die Franzosen entdeckt hatten, als die Geschütze Volltreffer bekamen, als alles half und einsprang und daneben lagen und brüllten vor Schmerzen die halbverkohlten Kameraden und keiner konnte helfen..." Entsprechende Berichte wurden jedoch zurückgehalten, anderes in den Vordergrund gestellt, so zeigt Paul Rieß exemplarisch, was der Mann aus dem Volke – und das war Rieß – wahrnahm, wenn er nicht von der Feldpost eigener Verwandter eines besseren belehrt wurde: 4. Dezember 1914. "Bis jetzt haben aus hiesiger Stadt u. Garnison 170 Helden das Eiserne Kreuz erhalten. Der jüngste Träger dieser Ehrenauszeichnung ist der 16 1/2jährige Sohn des Cigarrenhändlers Justus Bendit in der Weinstrasse. Der Tapfere dient als Kriegsfreiwilliger beim 21. Inf. Regiment. Er ist Israelit." 17. Dezember 1914: Nachmittags um 2 Uhr erreicht Fürth die Nachricht, daß "der russische Generalangriff auf die schlesische und posenische Ostmark völlig gescheitert" ist. "In den Straßen standen truppenweise die Leute beisammen, ebenso in den Büros und Fabriken. Das Rathaus und alle Straßen waren im Nu mit deutschen, österreichischen, ungarischen und bayerischen Fahnen geschmückt. Sogar einige türkische Fahnen waren darunter. Die Michaelskirche ließ als erste den ehernen Klang ihrer Glocken ertönen, das schöne Geläute des Rathauses folgte und bald darauf alle Kirchenglocken. Das Läuten währte 1 Stunde lang. Abends 7 Uhr zog die Wehrkraftkapelle vor das Rathaus und unter schneidigen Märschen durch die Straßen der Stadt, gefolgt von einer ungeheuren Menge Menschen. Nach dem Abendgottesdienst hielt Stadtpfarrer Fronmüller von der Freitreppe aus eine begeisterte Ansprache. Ein Hoch auf unseren Kaiser, auf Hindenburg und auf unser Heer im Osten und im Westen, zu Wasser, zu Land und in der Luft und der Gesang 'Deutschland, Deutschland über alles' beschloß die erhebende Feier".
Am 24. August 1914 wird das Landsturmbataillon nach Belgien abtransportiert: "Von jungen Mädchen wurden den Einberufenen, die meist Familienväter aus hiesiger Stadt waren, Blumen dargereicht". Das obige Bild dürfte allerdings etwas später, wohl im Herbst 1914 (wahrscheinlich 21.10.) aufgenommen worden sein, als 3.000 Mann der "21er" nach Nordfrankreich abgingen: "Am Bahnhof hatte sich eine ungeheure Menschenmenge versammelt. Den ausziehenden Kriegern wurden Blumen und Liebesgaben überreicht. Unter dem Gesang patriotischer Lieder verließen die Militärzüge den Bahnhof" Repro: A. Mayer. Erlebnis und Wirkung Es war ein unerwartetes Erwachen, als die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 einen sofortigen Waffenstillstand verlangte. Nach den ständigen Durchhalteparolen und den Siegesmeldungen bis zuletzt wirkte dies wie ein Schock. Die deutschen Truppen standen bis Kriegsende tief in Feindesland, auch bei den Sozialdemokraten glaubte man bis zuletzt, daß ein Waffenstillstand auf Vorkriegsstatus ohne weiteres zu haben sei. Eine Niederlage des Reiches war einfach nicht vorstellbar gewesen . Die Realität und ganz besonders dann der Ausgang des Krieges verstörte die Öffentlichkeit, die vielfach Anhänger einer weltgeschichtlichen "Missionsaufgabe" des deutschen "Wesens" waren ("Am deutschen Wesen soll die Welt genesen..."). Der Wissenschaftler Helmut Fries beschrieb die Folgen so: "Der Zeitgenosse brauchte nun eine Erklärung für das Scheitern der so sicher erwarteten Übernahme der geistigen Weltherrschaft durch die ‚sendungsvolle‘ (Thomas Mann) deutsche ‚Wesensart‘. Die Schuld dafür wurde immer mehr bei einem inneren Feind gesucht, der die großartige geistig-moralische ‚Erhebung‘ des deutschen Volkes vom August 1914 untergraben und zerstört haben mußte. Im Verlaufe des Krieges verbreitete sich im Deutschen Reiche eine Denkhaltung, deren verhängnisvolle Konsequenzen erst Jahre später wirksam werden sollten: Rassismus und Antisemitismus. Insbesondere das Judentum wurde nun verantwortlich gemacht für eine schnelle Rückkehr von Dekadenz, Egoismus, Profitmoral etc. in das geistig-kulturelle ‚Leben‘ der Nation... Mit dem Kriegsende 1918 kam dann zu der Auffassung eines geistigen Verrats noch die Behauptung des Dolchstoßes, also die Schuldzuweisung für den militärischen Ausgang des Krieges an die vermeintlich von Juden und Bolschewisten beherrschte Sozialdemokratie. Damit war eine wichtige Basis gelegt für den späteren Erfolg völkisch nationaler Ideologie. Je mehr die Erinnerung an die Realität des Krieges von 1914-1918 verblaßte, um so heftiger konnte nun Rache gefordert werden für den ‚doppelten Verrat‘ am deutschen Volke. Eine neue Generation, gehärtet in den ‚Stahlgewittern‘ des Ersten Weltkrieges, galt nun als auserwählt zur Revision der Weltgeschichte." Die These Die Täuschung des deutschen Volkes durch die "Männer von 1914" und die folgende Enttäuschung hatten während des Krieges, in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus ungeahnte Folgen. Zusammen mit der schmerzlichen Erinnerung an die gebrachten Opfer und der Empörung über die Friedensbedingungen der Alliierten ergab sich ein gefährliches Gemisch in den Köpfen der Menschen, aus dem der Nationalsozialismus keimte und das den Holocaust ermöglichte. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind die radikalen Konsequenzen von Hitlers Interpretation des Ersten Weltkrieges. Viele, wenn nicht die meisten Deutschen konnten Hitlers Interpretation zumindest nachvollziehen. Die jüngere Generation hatten ebenfalls Eindrücke, die vom geschickten Demagogen zu besetzen waren: Sie hatte die Schmach verinnerlicht, die Schande der Väter galt es zu revidieren. Der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" folgte eine noch größere Katastrophe. Alexander Mayer Alexander Mayer: Fürth 1911-1914. Krieg der Illusionen – die lokal Sicht. Städtebilder Verlag Fürth. ISBN 3-927347-44-2. Fürth 2000. |